Am 2. Mai 2016 diskutierten Asst. Prof. Dr. Ebru Turhan (Türkisch-Deutsche Universität), Dr. Lale Akgün (MdB a.D., SPD), Serap Güler (MdL, Nordrhein-Westfalen, CDU), Jun.-Prof. Dr. Béatrice Hendrich (Universität zu Köln), Dr. Funda Tekin (Universität zu Köln, Centre international de formation européenne) über die EU-Türkische Kooperation im Kontext der Beitrittsverhandlungen der Türkei. Dabei wurde neben dem Stand und Fortgang der Beitritts- und Kooperationsverhandlungen, eine Wahrnehmung der Türkei im Vergleich zu andern Staaten diskutiert. Zudem wurde die institutionelle Rolle des Europäischen Rats im EU-Türkei-Deal sowie die Möglichkeiten einer differenzierten Integration beleuchtet. Die Diskussion wurde von Prof. Wolfgang Wessels (Universität zu Köln) moderiert und von 72 Studierenden und Interessierten besucht.
Einen einführenden Vortrag begann Ebru Turhan mit einem Bericht zur Lage der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei:
- In den zwei Jahren vor der Zuspitzung der Flüchtlingskrise im Oktober 2015 seien nur zwei Kapitel der Beitrittsverhandlungen eröffnet worden. Dabei habe sich der Prozess vordringlich auf Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission beschränkt, während es nur wenige Aussagen der Staats und Regierungschefs gegeben habe. Noch 2014 habe Angela Merkel ihre Skepsis gegenüber einer Vollmitgliedschaft ausgedrückt, sich jedoch für die Öffnung weiterer Kapitel ausgesprochen.
- Im Kontext der Flüchtlingskrise ist die Visaliberalisierung an die erfolgreiche Durchführung des Rücknahmeabkommens zwischen der EU und der Türkei geknüpft worden. Eine Umsetzung der Visaliberalisierung setzt dabei voraus, dass die Türkei einen sogenannten „Fahrplan zur Einführung der Visafreiheit mit der Türkei“ erfüllt. Dieser umfasst 72 Kriterien, beispielsweise den Schutz von Grenzen und Grundrechten. Erst wenn diese erfüllt sind, könne die Kommission einen Vorschlag zur Abschaffung der Visapflicht machen, dem danach noch der Ministerrat und das Europäische Parlament zustimmen müssen. Kritisch hier ist die Gewährung der Visa-Freiheit für Bürger aller EU-Staaten in der Türkei. Zwar besteht diese bereits für einige Länder, einen besonders schwierigen Fall stellt jedoch Zypern dar: Würde die Türkei zypriotischen bürgern Visafreiheit erteilen, käme dies einer Anerkennung Zyperns als Staat gleich. Da eine solche als unwahrscheinlich gilt, stelle sich laut Turhan die Frage, ob die Kommission in diesem Fall einen Kompromiss eingehe.
- Vor dem Hintergrund, dass die Ägäis 2015 die Hauptmigrationsroute nach Europa darstellte, wurde am 15. Oktober 2015 ein sogenannter „gemeinsamer Aktionsplan“ zwischen der EU und der Türkei ausgearbeitet. Seitens der Türkei umfasst dieser die Rücknahme von Flüchtlingen, die über die Türkei nach Griechenland migriert sind. Im Gegenzug gewährt die EU finanzielle Unterstützung.
- Den darauffolgenden Novembergipfel zwischen der EU und der Türkei ordnete Turhan als Wendepunkt in den EU-Türkei-Beziehungen ein. Hier sei unter anderem das Kapitel 17 der Beitrittsverhandlungen, zur Wirtschafts- und Währungspolitik geöffnet worden. Zudem wurden die Verhandlungs- und Kooperationsbedingungen modifiziert, indem sich auf einen 2-mal im Jahr stattfindenden EU-Türkei-Gipfel, regelmäßige Treffen auf Ministerebene sowie einen strategischen Wirtschaftsdialog geeinigt wurde.
- Im Anschluss an diesen Gipfel habe Ankara das Zustandekommen des Abkommens an verschiedene Bedingungen, wie die Festlegung eines 1:1 Mechanismus in der Übernahme von Geflüchteten, geknüpft. Diese seien bilateral – besonders zwischen der deutschen Bundesregierung und der Türkei – verhandelt worden, sodass im März 2016 die meisten Forderungen akzeptiert werden konnten.
Insgesamt unterstrich Turhan die Rolle der europäischen Staats- und Regierungschef, die einerseits die strategischen Interessen der EU bestimmt und gleichzeitig als Krisenmanageragiert hätten. Eine Schlüsselrolle sei dabei der deutschen Kanzlerin zugekommen, die, gemeinsam mit verschiedenen Spitzenpolitikern der EU, Verhandlungen mit türkischen Vertretern abgehalten habe. Bezüglich der Kooperation innerhalb der EU machte Turhan darauf aufmerksam, dass diese vor allem zwischen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Angela Merkel stattgefunden habe, während Donald Tusk, als Präsident des Europäischen Rates, keine besondere Rolle zugekommen sei. Auch sei, anders als in anderen Krisensituationen, die deutsch-französische Achse innerhalb des Europäischen Rates kaum aktiv gewesen.
Als Zukunftsprognose gab Prof. Turhan die Einschätzung, dass Deutschland weiterhin eine Schlüsselrolle in der Kooperation mit der Türkei spielen würde. Die formale Beziehung zwischen den beiden Partnern würde sich jedoch wahrscheinlicher in Richtung einer strategischen Partnerschaft mit sicherheitspolitischem Schwerpunkt entwickeln. Turhan schloss mit der Anmerkung, dass strategische Partnerschaft einen negativen Einfluss auf den Demokratisierungsprozess der Türkei haben könnte.
Dr. Lale Akgün kommentierte den Beitrittsprozess mit einem Rückblick auf den Stand der Verhandlungen in 2005. Damals habe sie als Abgeordnete das Gefühl gehabt, eine junge Demokratie könne unterstützt werden. Zwar sei die Türkei damals auf einem Stand gewesen, der den Anforderungen eines Beitritts zur EU eher entsprochen habe als heute, trotzdem sei es bei einer strategischen Partnerschaft geblieben. Nachdem die Verhandlungen sich in den letzten Jahren – in den Worten Akgüns – „in der Tiefkühltruhe“ befunden hätten, werde nun mit einem autoritären Regime verhandelt. Für die Regierung Erdogans sei dies ein Trumpf. Akgün kritisierte die Staaten der EU, dass die EU-Türkei Politik immer nur aus innenpolitischen Motiven erfolgen würde. Zudem werde das aktuelle Motiv der Verringerung der Flüchtlingszahlen nicht zu einer Lösung, sondern lediglich zu einem Stau in der Türkei führen.
Serap Güler zeichnete ein positiveres Bild von der Rolle der Türkei, indem sie die Kritik an der Türkei in Perspektive mit Handlungen anderer Staaten setzte. Sie begann mit der Warnung, die Türkei als einen Staat darzustellen, mit dem man Verhandlungen mehr führen könne, während durchaus mit China verhandelt werde. Bei der Kritik an der Türkei sei zudem die Frage zu stellen, ob Mitgliedstaaten wie Polen, Ungarn und Tschechien „europäische Werte“ leben würden. Bezüglich des Umgang mit Geflüchteten, habe sie bei einem Besuch auf Lesbos - bereits vor der dortigen Zuspitzung der Situation - die Erfahrung gemacht, dass die Menschenwürde an den Europäischen Grenzen ende. Hier würden auch auf europäischem Boden Menschenrechte nicht geachtet.
Außerdem machte Güler darauf aufmerksam, dass die diskutierte Einführung einer Visafreiheit ein normaler Schritt des seit 2005 laufenden Beitrittsprozess sei. Im Vergleich zu anderen Beitrittskandidaten werde hier mit einem strengeren Maß gemessen. Güler schloss mit einer positiven Bewertung der Unterstützungszahlungen der EU an die Türkei: Wenn durch die Zahlungen erreicht werde, dass Menschen nicht in Camps, sondern in Regionen leben könnten, die ihrer Heimat ähnlich seien, dann sei dies dem europäischen Gedanken gerecht.
Im Beitrag von Dr. Béatrice Hendrich wurde die institutionelle Rolle des Europäischen Rates betrachtet. Aus dieser Perspektive müsse gefragt werden, was eigentlich ein Europäischer Rat als Institution sei, da er zwar keine institutionelle Macht besitze, seine Schlussfolgerungen jedoch als Beschlüsse wahrgenommen würden. Dies führe unter anderem zu einem schlechten Standing des Europäischen Parlaments in der Öffentlichkeit. In Bezug auf die Beitrittsverhandlungen behandele der Europäische Rat die 72 Kriterien zur Visaliberalisierung (siehe oben) mit einem gewissen Relativismus. Dies könne von dem EP eigentlich so nicht hingenommen werden. Dieses institutionelle Ungleichgewicht zeige die Probleme der Europäischen Union auf. Insgesamt sei es jedoch eine „Peinlichkeit für die EU“, dass die Visaliberalisierung noch nicht umgesetzt sei: Aus persönlicher Erfahrung könne sie von befreundeten türkischen Wissenschaftler_Innen berichten, denen die Einreise aus nicht nachvollziehbaren Gründen verwehrt wurde. Schließlich betonte Dr. Hendrich, dass die Türkei zu Europa gehöre und sich bereits das Osmanische immer Richtung Westen orientiert habe.
Den abschließenden Beitrag begann Dr. Funda Tekin mit einer Kritik am Begriff der ‚privilegierten Partnerschaft‘. Da bereits viele verschiedene Arten von Beziehungen zwischen den Partnern bestehen, bedürfe es nun einer Substanz. Als solche könne sich eventuell die Migrationsfrage herausstellen. In den EU-Türkei Beziehungen sei dabei der Weg das Ziel. Nichtsdestotrotz müssten gewisse Trends innerhalb der EU beachtet werden:
- Zunächst zeichne der Euroskeptizismus ein düsteres Bild der Union. Jedoch könne noch nicht von einem „Imageschaden“ geredet werden, da nur 19% der EU-Bevölkerung ein negatives Bild der EU hätten.
Seit dem „Big Bang Enlargement“ von 2005 und 2007 spiele zudem die Erweiterungsmüdigkeit eine wichtige Rolle.
- Nach der Krise des Schengen-Raums 2015 wurde der Eindruck erweckt, dass eine weitere Differenzierung der Union notwendig sei. Durch den EU-Türkei Deal bestehe jedoch die Chance, dass Schengen überleben könne.
- Differenzierte Integration spiele bereits eine wichtige Rolle in der EU. So habe Großbritannien unabhängig von der Debatte um den „Brexit“ und deren Ausgang viele Sonderregelungen und werde immer eher ein „Außenseiter“ sein.
- Für die Türkei beschrieb Tekin eine ‚associated membership‘ als mögliche Lösung des Kooperationsverhältnisses, da das Land weiter von den Kopenhagener Kriterien entfernt sei als noch vor zehn Jahren.
(Marieke Eckhardt)